Die Entwicklung der Unternehmenskultur ist ein komplexer Prozess, der oft im Verborgenen abläuft, damit als unsichtbar und fast esoterisch empfunden wird, aber jedenfalls wirkungsvoll da ist. Will man diese kulturelle Entwicklung aktiv begleiten oder verändern, ist ein gutes Verständnis dazu notwendig.

Diese Entwicklungsstufen, die man auch als “Haltungen”, „Selbstverständnisse“ oder ganz generell als „Kultur“ bezeichnen kann, sind entscheidend um festzustellen, welchen Weg man bei der Veränderung gehen kann und was gerade jetzt anschlussfähig bzw. annehmbar erscheint. Beim agiler werden geht es also nicht nur um eine neue Methode oder einen neuen Prozess, sondern auch darum, wie man diese prozessuale Veränderung auch tatsächlich leben kann.

Was sind Haltungen?

Haltungen sind die tief verwurzelten Glaubenssysteme und Denkmuster, die bestimmen, wie eine Organisation ihre internen und externen Beziehungen wahrnimmt und verwaltet. Sie formen die Kultur einer Organisation, prägen das Selbstbild und Selbstverständnis ihrer Mitarbeiter und beeinflussen die Art und Weise wie die Zusammenarbeit in der Organisation aussieht.

Jede Organisation (oder Organisationseinheit) agiert hauptsächlich in einer dieser Haltungsstufen, die aufeinander aufbauen. Jede dieser Stufen prägt das Selbstbild der Einzelpersonen und damit auch das Gesamtbild der Organisationskultur. Sie ist Teil der Kultur und somit Teil der Identität.

Die sechs Stufen der Haltungen

Das Buch “Haltung entscheidet” stellt sechs Stufen der persönlichen und organisatorischen Entwicklung vor. Martin Permantier hat in diesem Buch, aufbauend auf bereits vorhandenen entwicklungspsychologischen Modellen, diese Stufen sehr gut aufbereitet und im Zusammenhang der Organisationsentwicklung erklärt.


Diese Stufen bedeuten:

  1. Selbstorientiert-Impulsiv: In dieser Stufe sind die Individuen stark in ihren Bedürfnissen gefangen. Ihre Denkweisen erwarten einfache Zusammenhänge, im dualistischen Sinne von richtig oder falsch bzw. von gut oder schlecht. Beurteilt wird die Situation vom Anführer der Gruppe.
  2. Gemeinschaftsbestimmt-Konformistisch: In dieser Stufe lernen die Personen Regeln und Normen, die sich an ihrem Umfeld orientieren. Ihre Identität wird stark durch die Zugehörigkeit zu einem Wir definiert und weniger durch ihre Individualität. Es geht nicht so sehr darum das beste Ergebnis zu erreichen – viel wichtiger ist es, keine Fehler zu machen und mit der Gruppe konform zu sein.
  3. Rationalistisch-Funktional: In dieser Stufe ist die Kultur der Organisation von Rationalität und Funktionalität geprägt. Die Individuen sind auf ihre Rolle und ihre Aufgaben fokussiert und streben danach, ihre Ziele effizient zu erreichen. Effizienz, Perfektion, Messung und Kontrolle sowie ausgiebige Excel Tabellen sind ein Ausdruck dieser Sichtweise.
  4. Relativierend-Individualistisch: In dieser Stufe erkennen die Individuen die Bedeutung von Individualität und Selbstbestimmung an. Sie sind offen für Veränderungen und streben danach, ihre Einzigartigkeit und ihren Beitrag zur Organisation zu maximieren. Die Leistung einzelner wird als großes Potential gesehen. Eine Person kann einen großen Unterschied machen. Daher werden Einzelleistungen stark gefördert.
  5. Systemisch-Integrativ: In dieser Stufe erkennen die Individuen die Verflechtung und Komplexität der Organisation an. Sie streben danach, die Organisation als ein zusammenhängendes Ganzes zu verstehen und zu beeinflussen. Unabhängige Teams werden gefördert. Selbstbestimmung in der Gruppe wird erlaubt, gefördert und auch als „normal“ und als selbstverständlich empfunden. Echte Agilität ist eine Arbeitsform passend in dieses Selbstverständnis.
  6. Evolutionär-Holistisch: In dieser finalen Stufe erkennen die Individuen die ständige Entwicklung und Veränderung der Organisation an. Sie streben danach, die Organisation kontinuierlich zu verbessern und anzupassen, um ihren langfristigen Erfolg zu gewährleisten. Eine holistische systemische Sichtweise wird gelebt. Es geht nicht mehr um „mich“, um „uns als Team“ oder um „uns als Organisation“, sondern es geht um das Ganze. Das Gemeinwohl kann wichtiger sein als das der eigenen Organisation.

In einem Großteil der Unternehmungen beherrschen die Rationalistisch-Funktionale Haltung (3) oder die Relativierend-Individualistische Haltung (4) das Selbstverständnis in der Organisation. Interessant dabei ist, dass die Prinzipien des agilen Arbeitens eher zur Systemisch-Integrative (5) Haltung passen.

Die Rolle dieser Haltungen in der agilen Transformation

Die Haltungen einer Organisation spielen daher eine entscheidende Rolle in der agilen Transformation. Eine agile Transformation erfordert oft eine signifikante Verschiebung in der Art und Weise, wie eine Organisation arbeitet und sich selbst wahrnimmt.

Herausforderungen bei der Implementierung von agilerer Zusammenarbeit

Ein Beispiel für die Herausforderungen, die sich aus den Haltungen ergeben können, ist die Einführung von Agilität in einer Organisation, die zuvor stark in der rationalistisch-funktionalen Haltung (3) verankert war. Also der Haltung, in der es um rationelles, effizientes Vorgehen geht, deren Leistung man in möglichst allen Feldern genau messen will. In diesem Fall besteht die Gefahr, dass eine agile Methode aus der Sicht der aktuellen Haltung gesehen wird und deren Nutzen dadurch missverstanden und möglicherweise hauptsächlich auf den reinen Prozessaspekt reduziert wird.

Und möglicherweise ist das auch schon genug oder von der Unternehmensführung so gewollt. Prozessverbesserung und operative Selbstorganisation könnte schließlich ja auch das Ziel der Veränderung sein!

Falls es jedoch nicht nur darum geht, braucht die Implementierung von Agilität auch eine Verschiebung hin zu einer anderen Haltung, die eine größere Betonung auf Individualität, Anpassungsfähigkeit und kontinuierliches Lernen legt. Nur dann können sich oft erwartete Eigenschaften wie Innovationsfähigkeit und Kreativität sowie Anpassungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft erst ausreichend entwickeln. Wenn eine Organisation jedoch immer noch stark in der rationalistisch-funktionalen Haltung (3) verankert ist, kann sie Schwierigkeiten haben, diese neuen Konzepte zu verstehen und anzunehmen.

Organisationsentwicklung und Haltungsveränderung

Die Organisationsentwicklung, erfordert daher eine konkrete Arbeit an der Haltung. Dabei handelt es sich um eine kulturelle Entwicklung mit Schwerpunkt auf der Weiterentwicklung dieser Haltungsebenen.

Nachdem man Unternehmenskultur nicht direkt entwickeln kann und man die Richtung der Kulturentwicklung nur bedingt steuern kann, muss der Prozess indirekt getriggert werden. Es geht also darum, Mechanismen zu nutzen, die Auswirkungen auf die Kultur haben und hoffentlich die Veränderung in die gewünschte Richtung vorantreiben.

Diese Trigger können Interventionen in Themenfeldern sein, die Auswirkungen auf die Kultur haben. Das sind sehr viele. Beispielsweise kann man über die Wahl der Methoden und Prozesse neue Handlungsweisen ausprobieren und üben. Man kann die Art der Führung verändern, in dem man Führungsbewusstsein fördert und Führungsfähigkeiten schult. Man kann auch Strukturen und Regeln ändern sowie die Anreizsysteme anpassen, um einige Ansätze zu nennen.

Die gezielte Veränderung von Haltungen braucht also ein Vorgehenskonzept, das viele Faktoren der Organisation inkludiert – mehr als nur die Methoden und die Prozesse.

Fazit

Die Haltungen einer Organisation spielen eine entscheidende Rolle in ihrer Fähigkeit, eine agile Transformation erfolgreich durchzuführen. Durch die Berücksichtigung der vorhandenen Haltungen und die gezielte Arbeit an ihrer Veränderung können Organisationen eine effektivere und nachhaltigere Veränderung erreichen. Dabei ist es wichtig zu erkennen, dass die Entwicklung von Haltungen ein kontinuierlicher Prozess ist und dass jede Organisation ihren eigenen einzigartigen Weg zu einer agileren Zusammenarbeit haben wird.

Quellen und weiterführende Verweise

  • Martin Permantier, Buch: Haltung entscheidet (Die Hauptquelle für diesen Artikel.)
  • Frederic Laloux, Buch: Reinventing Organizations
  • Ken Wilber, Modell: Integraler Ansatz
  • Don Edward Beck, Modell: Spiral Dynamics
Bernhard Fink